Gipfel- und Höhenheiligtümer

Seit der Frühzeit gibt es Belege für kultische Handlungen auf Berggipfeln. Charakteristisch ist die Nähe zu einer Siedlung und der Blickkontakt zu korrespondierenden anderen Höhenheiligtümern.

“Als eine der wichtigsten archäologischen Quellen der ägäischen Bronzezeit liefern minoische Gipfelheiligtümer uns, sofern wir sie mit diesem erweiterten Blick betrachten, Informationen über das gesellschaftliche und kulturelle Selbstverständnis der minoischen Bevölkerung Kretas und erlauben eine ungefähre Rekonstruktion der minoischen Religion, die uns nicht schriftlich überliefert ist.

Forschungsgeschichte

Im Jahr 1903 nannte Myres nach einer Ausgrabung das gefundene Heiligtum von Petsofa
erstmals „peak sanctuary“, betitelte seinen Fund also als Gipfelheiligtum.
Er begründete die Benennung aus dem Fundkontext heraus mit dem Vorkommen figürlicher Darstellungen dreierlei Art. So entdeckte er Terrakotten, welche Menschen, Tiere oder einzelne menschliche Körperteile darstellen und interpretierte diese richtig als Votive.  Die weitere Erforschung der ägäischen Bronzezeit schenkte den Funden zunächst keine große Beachtung, 1950 kannte Nilsson nur vier solche Heiligtümer. 22 Jahre später erwähnte Rutkowski dann allerdings bereits 37 Stätten, ihm waren bereits über 50 angebliche Gipfelheiligtümer bekannt, wobei es sich zumeist um nicht umbaute
Stätten handelt. Man kann somit festhalten, dass ein Gipfelheiligtum nicht zwingend über
Gebäude verfügen muss, was die Identifikation zusätzlich erschwert.
Peatfield zweifelte an den bisherigen Erkenntnissen und überprüfte 1981 die bekannten
Befunde. Seiner Meinung nach war zuvor im schlimmsten Fall jedes kretische Heiligtum,
welches auf einem Berg liegt, in einem Trugschluss als minoisches Gipfelheiligtum
identifiziert worden, obwohl es durchaus auch in späterer Zeit Heiligtümer ohne große
Architekturen gegeben hat. Anhand von topographischen Untersuchungen und Vergleichen der Befunde erkannte er schließlich nur 25 überzeugend belegbare minoische
Gipfelheiligtümer.
Bis heute hat sich diese Zahl durch Neufunde und weitere Forschung an bekannten
Fundstätten zwar etwa verdoppelt, für die Betrachtung relevant sind allerdings nicht alle
Gipfelheiligtümer, zumal auch längst nicht an allen gegraben wurde. Viele der Stätten
bestehen aus einfachen planierten, architekturfreien Flächen mit wenig Aussagekraft.

Chronologie
Cherry lässt die frühesten minoischen Gipfelheiligtümer in die späte Vor- bzw. frühe
Altpalastzeit datieren. Er begründet dies damit, dass die Heiligtümer nur in den Palästen ikonographisch repräsentiert sind und in beiden der gleiche Kultapparat Anwendung findet.
Außerdem sind die Inschriften in den Gipfelheiligtümern, so vorhanden, in Linear A gehalten und allen Heiligtümern sind Funde aus der Altpalastzeit gemein14.
Ziehen wir das Heiligtum von Juktas als Beispiel heran, so finden wir dort als einziges
Element der Altpalastzeit allerdings den Altar. Die übrige Architektur aus Terrassen und
Räumen ist spezifisch für die Neupalastzeit. Diese Tatsache lässt sich in allen palastnahen Gipfelheiligtümern beobachten, was zu dem Schluss führt, dass spätestens mit dem Bau der neuen Paläste eine ökonomische Zentralisation stattgefunden haben muss, welche auch die Gipfelheiligtümer erfasste.
Ausgebaut und erhalten wurden nur die Heiligtümer in Palastnähe, der Kult wurde damit aber auch exklusiver. Für die breite Bevölkerung verlor er somit an Attraktivität. In diesem
Zentralisationsprozess und im Zuge der Elitenbildung in der Neupalastzeit verschwinden die nicht urbanen Gipfelheiligtümer zusehends.

Nach Peatfield zu urteilen, musste man meist mit einem ein- bis zweistündigen Weg rechnen, war also für antike Verhältnisse nur recht kurze Zeit unterwegs und erreichte das Heiligtum ohne all zu große Anstrengung. Das Gipfelheiligtum von Juktas war sogar über eine gut befestigte Straße zu erreichen, was im Kontext mit seiner Verknüpfung zum Palast von Knossos und weiteren, in unmittelbarer Nähe gelegenen Gebäude steht.
Manche Gipfelheiligtümer waren mit einiger Sicherheit auch in das bäuerlich geprägte Leben der minoischen Kultur eingebunden, etwa durch angrenzende Weide- oder Ackerflächen. Gipfelheiligtümer liegen auf einem gut einsehbaren Gipfelplateau, genauer gesagt auf einem von einer Siedlung aus sichtbaren Areal an oder auf einem Berg und nicht immer auf dem absolut höchsten Punkt des Berges. Sie sind in relativ kurzer Zeit von einer nahe gelegenen Siedlung aus erreichbar und stehen in Interaktion mit dieser. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Intervisibilität der Heiligtümer. Da die minoische Gesellschaft ähnlich der klassischen griechischen Staatsstruktur aus zahllosen Poleis kein einheitliches Staatsgebilde war, entsteht durch diese Intervisibilität
zumindest auf religiöser Ebene auch ein Gemeinschaftsgefühl, einhergehend mit einer
einheitlichen, im gemeinsamen Kult begründeten „minoischen“ Identität, welche politisch
wohl nie existierte.

Entstehung der Gipfelheiligtümer
Der Kult und die Kulthandlungen sind aus dem archäologischen Kontext ebenso wie die
Religion nur schwer zu erschließen.
Mit Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass es sich bei den minoischen Architekturen auf
Gipfeln um keine Tempel handelt.
Was man etwa in den Gipfelheiligtümern findet, sind in erster Linie nicht die Gottheiten, sondern die Gläubigen. Terrakotten zeigen Adoranten, welche sich selbst im Heiligtum
substituiert sehen wollten, aber eine Ikonographie irgendwelcher Gottheiten ist uns kaum
bekannt
Darstellungen von Gipfelheiligtümern finden wir wie gesagt nur in den Palästen,
ebenso finden wir aber auch die Paläste ikonographisch in den Heiligtümern wieder. Wenn man wie Gehrke davon ausgeht, dass die Paläste „zugleich Mittelpunkte von Kult und Herrschaft“ waren, so hatten die Gipfelheiligtümer die Funktion eines identitätsstiftenden wirtschaftlichen Bindegliedes zwischen den einzelnen städtischen Zentren auf Kreta..

Gipfelheiligtümer müssen demnach als „the materialization of memory, the mythical elements in the landscape, and these ‚sites of memory’ represent media that together with other landscape features help formulate a political identity“ verstanden werden, was uns bei Betrachtung der allgemeinen Topographie Kretas leicht fallen dürfte, da die Insel wie oben beschrieben zum großen Teil bergige Landschaften aufweist.”
Zitat aus: Daniel Tobias Nieß “Minoische Gipfelheilgtümer”, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Zentrum für Altertumswissenschaften Institut für Klassische Archäologie, 2008. Download [pdf]

Einige Beispiele für Gipfelheiligtümer:

  • Petsophas
  • Traostalos
  • Vrysinas
  • Kofinas
  • Jouktas
  • Prinias
  • Atsipadhes Korakias

Wer schon einmal die kretische Landschaft in den Bergen erlebt hat, kann das sehr leicht nachvollziehen. Die meisten Touristen verbingen die Zeit ausschließlich am Meer und können daher auch gar nicht die “minoische Seele” verstehen.

Weiterführende Literatur: Vance Watrous “Some observations on Peak Sanctuaries” download [pdf]

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